Interview: Patrick Aigner, Autor.
„Vielleicht habe ich mit den Jahren gelernt, etwas besser zuzuhören.“
Der Autor Patrick Aigner lebt und arbeitet in Coburg. Seine Texte, die in diversen Büchern publiziert wurden, arbeiten sich an dieser Stadt sowie an der gesamten deutschsprachigen Literatur ab. Es geht um Musik. Es geht um Alles- ums Trinken, um die (Un)Möglichkeit von Beziehungen, Spiritualität. Es geht um das alte Deutschland. Es geht um Heinrich Böll, Nietzsche und Thomas Mann. Ich treffe Patrick an einem kalten Oktobertag in seiner Küche in Coburg. Der alte Küchentisch hat sicher schon viele Geschichten gehört. Nun werden weitere hinzukommen.
Naujoks: Kommen Deine Texte von unterschiedlichen Orten?
Aigner: Also erst einmal lüge ich. Ich lüge schon, bevor ich die erste Zeile geschrieben habe. Denn ich versetze mich in eine anderes Zimmer. Ich stelle mir also vor, woanders zu sitzen, während ich schreibe. Teilweise auch in eine andere Zeit. Teilweise auch in ein anderes Alter. Gedichte können auf tausend Arten entstehen, aber bei Geschichten ist es schon so. Und die, die meine Texte loben wollen, sprechen von „authentisch“. Advaita-Theorie-Texte, also Satsang-Sachen kann ich unter allen Umständen jederzeit. Mehr als mir lieb ist, aber es ist besser geworden.
Ansonsten hängen meine Geschichten meist an Coburg. Doch damit ist gar nichts gesagt.
Die Stadt, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht habe, ist mir auf immer neue Arten fremd. Mit einigen Ausnahmen. Wenn ich was getrunken hab, und die richtigen Leute um mich rum hab, kann es schon soweit kommen, dass ich mich als Teil dieser Stadt wahrnehme. Mehr wie ein bewegliches Haus als wie eine Person. Total. Manchmal bin auch ich mir selber der einzige richtige Leut.
Dann ist mir natürlich mein „Coburg im Himmel“ geblieben. Das ist so eine Mischung aus nicht eingetretenen Zukunftsträumen aus der Jugend, Träumen von Jahrhunderten, die hinter uns liegen, meinen älteren Vorstellungen davon, wie die Welt ist und einiges mehr. Und die romantisierte Zeit derer, die so fünf bis 25 Jahre älter sind als ich hat auch ihren Platz.
Das klingt jetzt so nach Gedanken und Tatsachen. Das kommt aber nur daher, dass ich es versuche zu beschreiben. Es ist mehr Raum, Feld, was auch immer.
Und mein Coburg hatte seit den Teenager-Jahren immer geheime Ausgänge nach Kreuzberg. Unterirdische Tunnel. Direkte Türen. Dass „mein Kreuzberg“ natürlich auch eine rein persönliche Ansammlung und Überlagerung von traumartigen Ebenen ist… Oranienstraße, Kotti und vor allem mein geliebter Heini, die Ecke…
Wie Du siehst, ist meine Landkarte ziemlich leer. Ein paar wenige Plätze, aus denen heraus, in die hinein ich lebe, also schreibe. Der Kälte, deren manche gute Autoren sich ausgesetzt haben, wollte ich mir nie antun. Eigentlich ist nur der Ort wichtig. Alles andere kommt von allein. Zumindest gilt das für mein Schreiben.
Naujoks: Kannst Du noch etwas mehr über Dein persönliches Berlin, Dein Kreuzberg erzählen? Was macht es aus? Was haben Orte mit Ortlosigkeit zu tun? Du hast dort eine kurze Zeit gelebt.
Aigner: Du müsstest mir schon sagen, was Du unter „Ortlosigkeit“ verstehst. Ich weiß dass aufgeräumte Zimmer sich auflösen, aber davon willst Du wahrscheinlich nicht sprechen. Ich weiß auch, dass es einen „Raum“ gab an der Stelle, an der jetzt ein Haus steht. An dem jetzt eine Stadt steht. Aber sag mir, was ist dein Thema?
Naujoks: Mein Thema ist Dein ganz persönliches Berlin, wie schaut das aus? Wie riecht es, schmeckt es? Inwiefern ist es mit Deinem Coburg verknüpft?
Aigner: Die Frage ist für mich schwerer zu beantworten, als man meinen könnte. Vielleicht hat jeder Orte, an denen die eigene Einsamkeit einen gewissen Glanz hat. Aber das ist die Antwort eines Mannes um die 50. Und ich rede mich damit schon etwas raus.
Wahrer ist womöglich, dass alles weh tut. Das Nicht-Geblieben-Sein. Das Wieder-Hin-zu-Wollen. Und vor allem das Das-es-da-auch-nicht-ist. Ganz davon abgesehen, ist Kreuzberg so richtig schön teuer geworden.
Mir ist da vieles in mir auch nicht klar. An einem Sonntag in den ersten Morgenstunden bin ich mal in alle möglichen Hinterhöfe und Hauseingänge in der Oranienstraße rein. Da ist es aufgeräumter und sauberer als in Coburg. Also alles nur eine Art Disneyland für die Touris? Ganz sicher ja. Und doch.
Und doch ist es verzaubert literarisch oder literarisch verzaubert morgens am Heini Kaffe zu trinken. Nachts bin ich da gar nicht so gern. Aber nachts bin ich eigentlich nirgendwo gern außer daheim. Selbst wenn ich was trinken gehe, mach ich das lieber tagsüber. Frühschoppen. Open End.
Wenn du in Kreuzberg fünf Bier trinkst, bist du ein Alki. Wenn du in Coburg fünf Stück trinkst, bist du der Fahrer. Späßchen. Späßchen mit was wahrem dran. Vielleicht bin ich aber auch eher so ein Vorstadtmensch. Vielleicht müsste ich mich in Berlin nur in die S-Bahn setzen und einfach ein paar Kilometer rausfahren, um Kneipen und Leute zu finden mit denen ich mich beim Bier wohl fühle. Stattdessen hocke ich öfters mal am Heini im Elefanten und wenn es Nacht wird und es immer noch nicht reicht, auch mal im Franken. Kommt auch darauf an, mit wem ich unterwegs bin. Und jede Nacht hat ja ihr eigenes Gesetz.
Auch muss ich gestehen, dass ich natürlich froh bin, nicht DIE KNEIPE zu finden, in der ich mich total wohl fühle. Sonst würde ich wahrscheinlich für ein paar Jahre dort nie mehr aufstehen. Nie, nie, nie!
Also das Trinken ist es nicht. Die Leute, die ich aus Kreuzberg kenne, sind es auch nicht, obwohl ich einige schon sehr mag. Und ich rede sowieso nur von der Ecke Kotti, Oranienstraße und Heini. Naja, die Nebenstraßen bis runter zum Hermannplatz haben auch so ihre Ecken. Und unter dem Görlitzer Park… Ach ja…
Wahr klingt für mich, dass ich einen Platz suche, aus dem heraus ich kommen kann.
Naujoks: Was meinst Du damit? Einen Platz finden, aus dem heraus Du kommen kannst?
Aigner: Es entsteht vielleicht alles aus dem Nichts, aber nichts gesondert. Dass ich mir jetzt diese Gedanken mache und sie auch noch aufschreibe, kommt aus unserer Freundschaft, unseren gemeinsamen Interessen, aber vor allem auch aus dem Nachmittag, als wir in diesem Café am Wasser in Hamburg saßen und auch aus dieser Nacht auf der Reeperbahn. Aus meiner Sicht haben wir da so etwas wie ein Gespür für den Anderen bekommen. Ein nicht in Worte zu fassendes Verständnis.
Klar geht es da nur um einen Teilbereich der anderen Person. Und wenn man sich selber oder einem anderen Menschen auf der Spur ist, ist da immer eine Umdrehung mehr, als das, was man fassen kann. Weiß ich alles. Ich denke öfters daran, dass Du erzählt hast, dass Du mit deinem Vater als Junge auf Sankt Pauli unterwegs gewesen warst, als Ihr Deinen Onkel dort im Krankenhaus besuchtet. Du die Häuser, die Läden fast dein ganzes Leben kennst, daher auch verfolgst. Da tun sich Räume auf, aus denen man kommen kann. Räume, die sich zwischen den Zeiten, zwischen den Menschen, die da gelebt haben und leben, und zwischen den Gebäuden auftun.
Naujoks:
Ich erinnere mich besonders an einen Moment am Elbstrand, wir saßen nebeneinander und in einer Zehntelsekunde nahm ich eine Essenz war, die ich am ehesten als Friede bezeichnen möchte. Den Rest der Zeit, die wir in Hamburg verbrachten, war ich häufig innerlich angespannt, da es alles zu sagen galt, und daher nichts auszusprechen war. Bis auf die Sankt Pauli Nacht, da fiel dann alles harmonisch ineinander. Bis zu dem Moment, als du mir vor dieser Eckkneipe sitzend Deine Skinny-Girl Theorien versuchtest nahezubringen. Und ich so lachen musste.
Auf eine gewisse Weise ist St. Pauli mir immer fremd geblieben. Bin ich ein Fremder dort.
Was unterscheidet Berlin und Hamburg Deiner Wahrnehmung nach?
Aigner: Hamburg kenne ich nicht. Ich hatte zwei Lesungen im Schanzenviertel und hatte jeweils ein paar Tage dran gehängt. In der Zeit war ich auch nicht allein unterwegs. In Berlin hingegen habe ich über Jahrzehnte fast all meine Urlaube verbracht. Hab da sogar noch ein paar wenige Eindrücke aus der Kindheit. Manche Ecken Berlins waren also auch in mir, wenn ich wo anders war. Okay, aber versuchen kann ich es mal:
In Hamburg fällt es mir leichter, die Füße beim Laufen anzuheben. Viele schöne Menschen. Irgendwie aber auch so, als hätte man beim Fahrradfahren einen zu kleinen Gang drin. Hab da so ein Gefühl, als würde mein bisher gelebtes Leben an Wert verlieren. Meine Grabenkämpfe an Wichtigkeit verlieren. Meine Träume bekommen zumindest den Stempel Nicht-mehr-Zeitgemäß. Schon seltsam, in der Düsseldorfer Innenstadt, wo die Menschen noch viel schöner sind, ging es mir nicht so. Vielleicht aber auch, weil es da völlig an Berührungspunkten fehlt.
Andererseits habe ich in Düsseldorf mehr Punkies, mehr Trinker auf den Straßen, teilweise auf Decken hockend, gesehen als in Berlin oder Hamburg. Und um das Thema Skinnys nicht so ganz versanden zu lassen: In der Düsseldorfer Innenstadt siehst du in zehn Minuten mehr von denen, als in Coburg das ganze Jahr über. Top angezogen. Top zurechtgemacht. Skinnys, freundlich und zurückhaltend. Ich kann mich dem nicht entziehen. Ach, ich liebe die Menschen.
Und auf noch etwas anderes würde ich gerne kommen. Vielleicht bin ich da aber schon wieder bei meinem S-Bahn-Rausfahren-Thema. In Kreuzberg wissen die Leute alles. Kennen alles. Ob es Bob Dylan ist. Ob es politische Ideen sind. Ob es Philosophen oder spirituelle Konzepte sind. Sobald das Stichwort fällt, wissen sie alles. Und sie wissen gar nichts. Nichts. Sie wissen nur, wie sie für sich etwas einordnen. Sonst wissen sie nichts. Vielleicht kommt das daher, dass sie immer alles greifbar nah hatten. Ihnen fehlt das Leben in einer Umgebung in der einem fühlenden Menschen nichts weiter bleibt, als sich mit seinen Ideen, seinen Platten, seinen Büchern einzusperren.
Und in einem gewissen Sinne, eingesperrt zu bleiben für immer. Sie konnten keine Liebe entwickeln für etwas, aus dem sie kommen können. Sie sind wie Blätter im Wind. Sie haben keine Antworten für sich selbst, weil sie nie jemanden wirklich zugehört haben. Weil sie daher auch nie die Möglichkeit hatten, in die Schluchten zwischen zwei für sie gleichsam wahre, sich jedoch widersprechende Antworten abzustürzen. Daraus folgt, dass sie sich selber niemals ein Feld werden. Sie werden sich selber für immer Wüste bleiben.
Naujoks: Wann, wo und warum hast Du begonnen, zu schreiben?
Aigner: Ganz sicher mit acht, als ich die ersten Griffe auf der Gitarre drauf hatte. Musik war damals alles für mich. Obwohl ich da leider talentfrei bin. Aber bei den Texten merkte ich schon, dass was geht. Mein Schreiben, ist auch immer das Song-Schreiben geblieben, auch wenn es längere Geschichten sind. Ich weiß nicht, ob du mich da verstehst. Dieses „Mann kommt von hinter dem Baum und geht dann vor den Baum und dann fährt er mit dem Auto und dann begeht er keinen Mord, weil er der Kommissar ist und dann hat er Sex mit der falschen Frau und dann hat er keinen Sex mit der richtigen Frau und dann sagen seine bei der Mutter lebenden Kinder dies und dann sagt sein politisch anderes orientierter Freund das und immer so weiter“ hat mich nie interessiert. In Filmen geht das. Aber beim Lesen ist das die Hölle in Tüten.
Da ich aber beim Aufräumen Hörbücher brauche und sie auch beim handwerklichen Arbeiten gerne nebenbei laufen lasse, also eigentlich höre und nebenbei die Arbeit geschehen lasse, kenne ich sehr viel von diesem Mist. Stadtbücherei. Beutel voll mit Hörbüchern. So in der Art.
Und manchmal passiert es, dass einer von diesen Seitenvolltextern Strich Innen dann doch mal voll ins Schwarze trifft. Ich habe da gerade Donna Leon im Kopf. Sie lässt einmal ihren venezianischen Comessario Guido Brunetti nach dem er glaube ich eine Leiche begutachtet hat, vor das Haus gehen und warten. Auf wen weiß ich nicht mehr. Das war gut. Ich habe zumindest alles, was auf YouTube ist, von ihr gehört. Bleiben wird mir diese eine Situation.
Naujoks: Also ist Schreiben für Dich ein Vehikel, um etwas zu vermitteln? Was genau ist das und wie hat es sich durch Deinen Zugang zum Advaita verändert? Kannst Du das überhaupt konkret in Worte fassen?
Aigner: Vermitteln nein! Zaubern ja! So würde ich gerne antworten können. Wobei zaubern auch das falsche Wort ist. Ich liebe Heinrich Böll. Er ist für mich DER AUTOR. Daran kann ich auch nichts machen. Egal was ich lese, wie gut auch immer es ist. Es ist so als stände in der einen Waagschale Heinrich Böll und in der anderen alle andere Literatur. Heinrich Böll hat etwas durch seine Texte getragen, was man nicht benennen kann. Für dieses etwas hat der eine Mensch eine Antenne, der andere nicht. Ich weiß noch wie erschüttert ich war, als ich das Buch von Marcel Reich-Ranicki mit den gesammelten Kritiken zu Heinrich Bölls Werken gelesen habe. Der große deutsche Kritiker hatte diese Antenne nicht. Und Marcel Reich-Ranicki war doch für mich auch wichtig. War mit, an meinem inneren Küchentisch. Ist es. Alter, das Leben fickt dich auf allen Ebenen. Jahre später, ging es mir, aus völlig anderen Gründen mit Wolf Biermann ähnlich. Und ich werde wohl mit dem einen, wie mit dem anderen Thema in diesem Leben nicht mehr fertig werden.
Das Advaita-Fass möchte ich an dieser Stelle nicht aufmachen. Vielleicht finden wir in einem anderen Rahmen eine Möglichkeit für eine tiefere Auseinandersetzung.
Naujoks:
An Heinrich Böll erinnere ich mich aus der Schulzeit. Dort wurde er als Gesellschaftskritik rezipiert und abgehandelt. Dadurch und durch die damit suggerierte Schwere wurde es einem dann auch gleichzeitig vermiest. Er kommt auf meine Leseliste.
Kann man diese ‚Antennen‘ ausbilden, zum Beispiel durch Leiden oder sind Sie angeboren? Hat Leiden einen Sinn?
Aigner: John Joseph Lydon macht Sinn. Unterhält mich. Bringt mich zum Nachdenken. Macht mir auch manchmal Mut. Reicht mir auch diese wichtige Hand. Dieses wichtige Nebeneinander. Leute die in ihrem Leben Kämpfe angefangen haben, die sie nicht gewinnen können brauchen Menschen die in ihrem Leben Kämpfe angefangen haben, die sie nicht gewinnen können. Natürlich zerbrechen wir, wenn wir richtig auf die Mütze bekommen. Natürlich gehen wir kaputt daran. Aber noch mehr, gehen wir kaputt an den Kämpfen denen wir ausgewichen sind. Selbst ein Berg von Schuld ist leichter zu ertragen, als die Erinnerung an die Momente, wo wir hätten kämpfen sollen, und es nicht getan haben. Leiden ist die Grundierung. Da beißt die Maus kein Faden ab.
Zum Thema Antennen für Heinrich Bölls Geheimnis. Ich glaube nicht, dass man sie ausbilden kann. Nicht wirklich. Ich kann mir viele Gesichter schlecht merken und mit Namen hab ich es auch nicht so. Das wurde mir natürlich erst dadurch klar, dass ich sah, dass andere das viel besser können.
Beim Song-Anfängen Ratespiel bin ich hingegen ziemlich gut. Auch das habe ich nur durch den Vergleich zu anderen Menschen gesehen. Faust ist nicht so toll, überhaupt nicht. Dass dieses Werk heute noch so viele Liebhaber hat, liegt einfach daran, dass die Leute nichts Gutes kennen und erkennen können und dass vor allen Dingen Autoren nichts Gutes schreiben.
Nietzsche wäre so das nächste Beispiel. Nietzsche kannst du knicken. Aber da die Leute weder die Augen, noch die Seele dazu haben, ihm zu folgen, werden sie es nicht rausfinden. Wenn du dich nicht viele Monate, vielleicht ein paar Jahre intensiv mit Nietzsche beschäftigst, kommst du nicht dahinter, dass er nichts taugt. Besser gesagt, zu nichts taugt. Sicher kann man diesen Erkenntnisvorgang damit etwas beschleunigen, indem man parallel zu Nietzsche Nietzsche-Biographien liest. Aber du musst ihn lieben, ihm glauben und vor allem ihn nachvollziehen. Seine Wege gehen. Du musst fast schon zu ihm werden um zu sehen, dass er nichts taugt. Und er ist einer der Besten. So sieht es aus. Leider.
Göttlich gut hingegen ist Fernando Pessoas Buch der Unruhe. Es ist so gut, dass man selber nie mehr etwas schreiben will. Ich setze DAS BUCH DER UNRUHE gegen den gesamten Nietzsche. Und DAS BUCH DER UNRUHE gewinnt mit einem gigantischen Vorsprung. Ich habe noch nie ein besseres Buch gelesen. Heinrich Mann ist mir näher als Thomas Mann. Lieben aber, tue ich Hans Fallada. Und mir kommt es so vor, als hätte DAS BUCH DER UNRUHE ein Hans Fallada geschrieben.
Um zu behaupten, Thomas Mann wäre ein besserer Autor als Hans Fallada, braucht man eine gewisse Brille. Diese Brille, scheint heute das Standard-Modell für Literaturfreunde zu sein. Ich habe eine andere Brille auf. Durch meine Brille ist in Fallada der Pessoa, des Buchs der Unruhe. Und gegen dieses Buch stinkt Thomas Mann nicht an.
Naujoks: Was sind das für Kämpfe, von denen Du schreibst?
Aigner: Es geht um etwas, das mehr als die Vorliebe für einen Sound ist. Und schon gar nicht bedeutet es, einfach einen weiteren Ton an einen Akkord ran zuhängen und dann vielleicht noch den Grundton wegzulassen. Es geht darum, wie man sich etwas erschließt. Nicht dafür erschließt eine Prüfung zu bestehen. Nicht dafür erschließt es auf eine Bühne zu bringen. Auch geht es dabei nicht um ein Verstanden-Werden. Auch nicht um ein Mitreden-zu-können.
Es geht schon wieder um so etwas wie ein Feld. Etwas aus dem man kommen kann. Aus dem man schreiben kann, aus dem man Musik machen kann. Man kann auch daraus lieben. Wobei mir das Wort FELD irgendwie zu zweidimensional erscheint. Man kriegt auf die Dauer schon mit, ob ein Autor aus einem solchen Feld heraus schreibt. Auch bei Politikern kann man merken, ob sie durch so ein Feld kommen, aus ihm heraus denken. Man kann auch mitkriegen, wenn Leute ihr Feld verloren haben. Und man merkt auch, wenn Leute, die ihr Feld nicht verloren haben, lügen. Man merkt es natürlich auch bei sich selbst. Da hat man was geschrieben, und man ist ganz glücklich, weil da ein paar gute Gedanken drin waren. Das überlagert erst mal. Wenn man später dann nochmal liest, sieht man schon, dass es dann doch nicht das Gelbe ist. Vielleicht intelligent, vielleicht sogar gut, aber nicht richtig. Im Sinne von stimmig.
Nun wäre das Künstler-Sein, das Leben also, doch sehr einfach, zumindest machbar, wenn jeder nur ein so ein Feld hätte. Vorhin beschrieb ich mein Fallada-Buch der Unruhe-Feld. Ich denke, jeder Mensch, hat da mehrere Felder. Gar nicht so viele. Aber sie laufen gegeneinander an. Suchen nach Gemeinsamkeiten. Nach der großen Gemeinsamkeit. Suchen nach der Auflösung in nur ein einziges Feld. Und immer wieder fällt man auf diesem Weg, in die Stille. In dieses Zu-gar-nichts-mehr-irgend-etwas-sagen-zu-können. Das können schon mal zwei, drei Jahre sein, die da vergehen. Meinungslos vergehen. Auch in einem gewissen Sinn, glücklich vergehen. Aber, dann kommst du wieder…
Naujoks: Kommst Du wieder? Kommt da noch was? Schreibst Du? Die Zeit, in der Du Deine Bücher publiziert hattest, scheint wie ein völlig anderes Leben.
Aigner: Oh, ich schreibe doch hier. Hier mit Dir. Du hast mich gefragt, und ich sagte, dass ich es mache und nun mache ich es und Du sagst, ich mache es nicht. SMILE. Ich mache das, was ich schreiben nenne. Hier. Jetzt. Gestern. Den Tag davor. Mehr ist nicht.
Wichtig für einen Autor ist nicht das, was zwischen zwei Buchdeckeln endet, sondern das, was er geschrieben hat. Böll hat sich auch mal in diese Richtung geäußert. Habe es lange nicht verstanden. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass das was veröffentlicht wird, nur so etwas wie ein Reifenabdruck ist. Dem Autor geht es aber ums Auto.
Das Bild passt herrlich. Und es passt nicht. Es passt nicht, weil das Auto den Reifenabdruck im Matsch nicht braucht, der Autor aber die Möglichkeit zu veröffentlichen sehr wohl. Nur die Möglichkeit. Er braucht diese Möglichkeit so, wie ich die Möglichkeit brauche, dass ein Mädchen kommt, wenn ich nach einer Trennung meine Wohnung wieder schön mache. Nur die Möglichkeit.
Naujoks: Das mag sich für den Autoren so darstellen. Der Leser hingegen hat nur das, was der Autor zwischen die Buchdeckel steckt. Bedeutet Dir Erfolg oder gelesen werden nichts? Was ist Erfolg für Dich?
Aigner: Mir hat mal jemand, der in der DDR gelebt hat, geschrieben, dass es bei ihnen in der Kneipe genauso war, wie ich es im Alk-Buch beschrieben habe. Das hat mich so gefreut. Freut mich jetzt noch, wenn ich dran denke. Er hat mich da einfach verstanden. Verstanden zu werden ist etwas sehr, sehr seltenes. Sehr, sehr schönes. Eigentlich gibt es das gar nicht. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das gemerkt habe. Wenn dir jemand auf die Schulter klopft, denkst du, der weiß irgendwie was du tust. Ist nicht so. Ist aber nicht schlimm. Ist eben nur anders, als ich dachte. Habe dann gelernt, dieses Wissen auch auf die Spiele mit den Mädchen anzuwenden. Lass sie denken und glauben was sie wollen, sie werden schon einen Grund haben, warum sie in meiner Küche sitzen. Dann hat es noch eine Weile gedauert, bis ich gemerkt habe, dass ich es ja selbst nicht anders mache. Dass wenn ein Mädchen erst mal erklärt, wie sie so ist, warum sie so ist und warum das auch noch richtig ist, meist die Luft raus ist. Außer es schaffen dann beide, in die Alles-Blödsinn-Region abzutauchen. Wir Spiris haben ja da Übung drin. Gespräche vor dem Sex haben halt andere Gesetze als Gespräche nach dem Sex. Bevor sie zu Gesprächen vor dem Sex werden.
Autoren wollen gelesen werden, und wollen es nicht. Autoren, die nie etwas veröffentlichen, und das ist meiner Meinung nach die Mehrzahl, haben da nur den einen Part. Nämlich den, dass sie gelesen werden wollen. Hast du erst mal einiges veröffentlicht, beschleicht dich der Gedanke, dass du es heute vielleicht ein wenig besser schreiben würdest. Meist hilft dann eine halbe Stunde, das eigene Zeugs zu lesen und zu merken passt-schon. Und trotzdem ist es nie ganz weg. Und es bleibt auch immer die Frage, ob es das Wert war sich selbst so öffentlich zu machen. So zur Schau zu stellen. Das ist aber ein Thema für sich.
Also, ich liebe es gelesen zu werden. Trotzalledem. Zu hundert Prozent.
Und ich habe auch jede Menge gute Argumente gegen Erfolg. Auch einige, die bestreiten, dass es so etwas wie Erfolg überhaupt gibt. Ich hätte ihn trotzdem ganz gerne. Wobei die Zeit, in der ich ihn richtig genießen hätte können, so zwischen 30 und 40 gelegen hat. Aber ja, ich will ihn. Immer rüber damit.
Naujoks: Ich kenne Dich erst seit Deiner Advaita Phase. Glamourös Dein Auftritt hier in Hamburg, man wünscht sich immer mehr Aigner, mehr Lesungen, mehr Text. War das Schreiben ‚davor‘ anders? Ist es mehr ein Suchen oder eher ein Finden und Beschreiben?
Aigner: Also erst mal 1000 Dank für die lieben Worte. Hätte ich damals das Gefühl gehabt, dass das so ist, wäre ich wahrscheinlich weiter unterwegs geblieben. Schon bei einer meiner ersten Lesungen, in Karlsruhe war das glaub ich, beschlich mich das Gefühl, dass ich der einzige bin, der hier im Raum weint. Vielleicht wird es Dir verständlich, wenn ich jetzt zum zweiten Teil Deiner Frage komme. Advaita lasse ich hier weiterhin außen vor. Wie gesagt, können wir gerne an anderer Stelle machen.
https://www.youtube.com/watch?v=blEteets5FI ist ein Joan Jett Video. I love Rock n Roll. Nach Minute 4. Es ist eines von den Standard-Videos, die ich in meinen feucht aber nicht immer nur fröhlichen YouTube Nächten am Start habe. Ich kenne von Joan Jett eigentlich gar nichts weiter. Sie steht auch nicht auf meinem… na lassen wir das, weil sich da im Moment Unsicherheit einschleicht. Okay. Guck Dir das Video an. Guck Dir die Frau an. Besser, guck Dir diese Frau als Menschen an. Guck es Dir ganz an. Auch wie sie von der Bühne geht. Guck sie Dir im Vergleich zum männlichen Sänger an. Siehst du das? Siehst du das was ich meine? Da ist was richtiges bei ihr. Was total richtiges. Was trauriges. Was echtes. Was wahres. Etwas, das ich oder Du vielleicht haben. Etwas, das ich oder Du vielleicht vergessen haben. Vielleicht ist es aber auch etwas, das mich anklagt. Etwas, das mir einen Verrat vorwirft, oder mich vor einem Verrat warnt. Selbst nüchtern kann ich dieses Video nicht gucken ohne feuchte Augen zu kriegen. Und guck sie Dir jetzt nochmal im Vergleich zum männlichen Sänger an. Siehst Du das? Spürst Du das? Ich habe keine Ahnung wie Joan Jett so ist. Ich spreche nur von diesen paar Minuten auf der Bühne. Es ist für mich so intensiv. Es scheint mich zu etwas in mir durchlassen zu wollen, zu etwas, was eigentlich durch hohe Mauern geschützt ist. Und jetzt guck sie Dir nochmal im Vergleich zum Sänger an!
Also, wie will man das nennen? Eine Einzelsituation? Ich weiß nicht. Solche Einzelsituation trage ich also mit mir rum. Manche von ihnen werde ich wohl nie aufschreiben. Sie nie für mich übersetzen können. Nicht so, dass es Worte werden. Ich denke Du kannst mich da jetzt verstehen.
Habe gestern Nacht auf Instagram deine Fotoreihe von den Stühlen gesehen. Das Foto mit dem gelben Stuhl und das Foto mit dem blauen Stuhl funktionieren bei mir. In mir. Übersetzen sich in mir. Finden Anknüpfungspunkte. Eröffnen Felder, Welten. Meine Welten. Meine Welt.
Und ich liebe Joan Jett für diesen Auftritt so tief wie ich nur lieben kann.
Naujoks:
David Berman, ein Songwriter, der derartige von Dir eben beschriebene ‚Empfindungen‘ in Serie in seinen Songs auf teilweise großartige Weise zu reproduzieren wusste, hatte sich kürzlich das Leben genommen, nachdem er lange mit Depressionen gerungen hatte.
Wie können Schönheit und Tod derartig perfide Zusammenarbeiten? Warum leben manche stumpf und unbescholten ein langes und dummes Leben und andere zerbrechen an der Schönheit?
Aigner: Vor einigen Jahren noch, oder auch letzten Samstag mit genug Druck auf dem Kessel, hätte ich mit Goethe geantwortet:
Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Lieblingen ganz, Alle Freuden, die unendlichen, Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Und dann hätte ich mir nachgeschenkt und wäre mit Brecht gekommen:
Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunter zieht: Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt. Soviel Himmel hat Baal unterm Lid Daß er tot noch grad gnug Himmel hat.
Und an Tagen wie es BAP hier besungen hat, mache ich das sicher auch heute noch:
Dann hängste nur noch römm un zweifels ahn dir un wirfs dir alles, wat du finge kanns, vüür, bess sujar neidisch op die Type, die du sons nur beduhrs.
Aber… Aber! Aber ich bin älter geworden. Vielleicht habe ich mit den Jahren gelernt, etwas besser zuzuhören. Oder ich habe es gelernt anderen die Möglichkeit zu geben mit mir zu sprechen. Mir zu erzählen, will heißen, sich selbst zu erzählen wenn ich dabei bin. Dass ich mit der dusseligen Patrick-Person nicht im Weg stehe obwohl sie ganz da ist. Keine Ahnung. Ist keine Technik. Vielleicht nur das Alter.
Auf jeden Fall bin ich heute der Meinung, dass alle Männer diese Verzweiflung und auch die dazugehörige Schönheits-Erkenntnis-Fähigkeit in sich haben. Nicht dauerhaft abstellbar. Frauen sind da anders. Sie verzweifeln auf andere Art. Wir werden sie nie verstehen und sie uns nicht verstehen können.
Dieses Interview ist schon sehr seltsam. Ich antworte auf jede Frage immer das Selbe. Mit anderen Worten. Aus einem anderen Blickwinkel heraus. Immer wieder schließt sich der Kreis.
Deine Frage war:
Wie können Schönheit und Tod derartig perfide Zusammenarbeiten? Warum leben manche stumpf und unbescholten ein langes dummes Leben und andere zerbrechen an der Schönheit?
Ich denke, wir machen immer beides. Da wir an der Schönheit zerbrechen, also zerbrechlich sind, brauchen wir Schutz. Und der Schutz ist die Stumpfheit. Ich denke, hier war Nietzsche auf der richtigen Spur:
…dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch’s Leben rollte…
Naujoks: Danke, Patrick.
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